“Das Leben ist manchmal ein Karbolchampignon…”

Ungefähr Mitte August verwandelt sich meine liebe Frau Mama von einer kühlen und strukturierten Denkerin in eine nasengesteuerte Pilzsucherin, sozusagen eine Trüffelsau auf zwei Beinen. Ausgerüstet mit Taschenmesser und Jutetasche (Spankorb ist erstens zu sperrig und könnte zweitens andere Spaziergänger ebenfalls zur Suche animieren, was es dringend zu vermeiden gilt!) zieht sie los und kein pilzversprechendes Fleckchen Wald ist dann vor ihr sicher. Jahrelang konnte ich dieser Leidenschaft rein gar nichts abgewinnen und kaufte meine Pilze lieber auf dem Wochenmarkt oder ließ sie mir von sammelwütigen Freunden zum gemeinsamen Verzehr in die Küche liefern. Ich hätte nicht gedacht, dass sich dies ganz schlagartig ändern würde.

Diesen August verbrachte ich zwei schöne Wochen in meiner badischen Heimat. An einem sonnigen Tag war ich mit meiner Mutter im Wald unterwegs, als sie plötzlich den ersten Pilz entdeckte. Von da an gab es kein Halten mehr. Immer weitere Kreise zog sie abseits des Weges, um dem kleinsten Hinweis auf einen schmackhaften Röhrling nachzupirschen. “Hunting mushrooms”, also Pilze jagen sagt man im Englischen und dieser Ausdruck beschreibt die Vorgehensweise meiner Mutter recht genau. Mit konzentriertem Blick und geblähten Nasenflügeln streift sie durchs Unterholz. Durch einen triumphalen Schrei wird die Sichtung eines großen Steinpilzes verkündet. Als ich dann jedoch “Oh, ist der schön!” rufe wird mir umgehend “Pssssst!!!” zugezischt. Es könnte mich ja jemand hören und unsere Pilzfährte aufnehmen.
Unser geplanter Wanderausflug, der sich immer mehr zu einer wahren Sammelorgie auswuchs, endete erfolgreich mit geschätzten zwei Kilogramm verschiedenster Röhrlinge. Und ich möchte betonen, dass meine erste Pilzjagd seit Ewigkeiten gleich vom Fund dreier gewaltiger Flockenstieliger Hexenröhrlinge (ungeachtet des wenig verlockenden Namens ein vorzüglicher Speisepilz) geadelt wurde. Über selbige stürzte ich nämlich beinahe, wuchsen sie doch in bester Fußangelmanier mitten auf einem abschüssigen Waldweg, den offensichtlich vor uns einige Tage kein Mensch begangen hatte.

Nach dieser Entdeckung begannen sich vermutlich, bestimmte Gene in mir zu regen. Gene, die ich offensichtlich von meiner Mutter übernommen habe. Seit diesem ersten glorreichen Pilzfund hat mich die Jagdlust gepackt. Und da die Saison gerade auf ihrem Höhepunkt ist und noch einige Wochen andauern wird, habe ich reichlich Gelegenheit der neuen Leidenschaft zu frönen.
Soeben habe ich eine Woche im schönen Mecklenburg verbracht und auch dort wachsen einem die Pilze stellenweise geradezu entgegen. Direkt am Wegesrand heben herrlichste Steinpilze, Maronen und Birkenpilze ihr Haupt, makellos und intensiv duftend! Auf einer etwa vierstündigen Wanderung sammelten vier Frauen einfach so nebenbei geschätzte zweieinhalb Kilo Pilze, die am Abend genussvoll und gemeinschaftlich verspeist wurden.

Die Pilzwelt ist voll von außergewöhnlichen Erscheinungen und Anblicken. Kaum war ich im Haus meiner Freundinnen in Mecklenburg angekommen, fiel mein Blick auf drei leicht verformte Volleybälle, die sich bei genauerem Hinsehen als Pilze entpuppten. Riesenboviste – eben frisch auf der Wiese hinterm Haus geerntet und als Appetithappen vor dem Abendessen eingeplant.
Wer nur die ungenießbaren Kartoffelboviste kennt fragt sich zurecht, ob man diese Goliathe (Durchmesser 10-50 cm!) unter den Pilzen wirklich essen kann. Man kann und sie schmecken sogar sehr gut. Wir verzehrten sie paniert und gebraten wie ein Wiener Schnitzel und tatsächlich steht der Riesenbovist dem berühmten Fleischstück in Punkto Durchmesser kaum nach!

Ein weiteres Highlight in meiner jungen Karriere als Pilzsucherin war die Entdeckung einer Wiese voller noch geschlossener Parasol-Pilze. Wie seltsame Blumen schauten Ihre gesprenkelten, eiförmigen Hüte aus dem dichten und hohen Gras hervor. Ein unvergesslicher Anblick, der sofort von dem Entschluss gefolgt wurde, diese Pracht am nächsten Tag höchstpersönlich zu ernten. Die versteckte Lage der Wiese versprach gutes Gelingen, denn hier würde uns kaum jemand zuvorkommen.
So brechen wir am folgenden Nachmittag mit einem großen Korb bewaffnet auf, um uns die Riesenschirmlinge anzueignen. Auf dem Weg zum Parasolversteck erinnern wir uns noch an die Sichtung einiger sehr großer, ausgewachsener Champignons und vieler noch ganz junger Pilze. Eigentlich wäre es doch fast eine Sünde, diese stehen zu lassen, oder?!
Gesagt, getan, der Hexenring aus Champignons wird aufgesucht und die jüngsten Exemplare im Sammelkorb versenkt. Nun aber weiter zu den Traumparasolen!
Auf der Wiese angekommen erwartet uns ein wunderbarer Anblick. Alle Schirmlinge sind inzwischen aufgegangen und breiten ihre beeindruckenden Hüte aus. Kaum passen sie alle in den Korb, so viele sind es und so groß sind Ihre Hüte!

Zuhause angekommen, werden die Parasole nach entsprechender Bewunderung durch alle Nachbarn und Dorfbewohner geputzt und mit Speck und Zwiebelchen in der Pfanne gebraten.
Die Champignons, die wir unter Zuhilfenahme eines hervorragenden Pilzbuchs als Schafchampignons identifiziert haben, werden nun ebenfalls für das Abendessen hergerichtet. Beim Champignon ist eine genaue Identifizierung deshalb erforderlich, damit der ungenießbare und leicht giftige Karbolchampignon ausgeschlossen werden kann. Dieser beschert einem nach der Einnahme eine ganze Nacht auf der Toilette, gerne auch Gesicht voran! Die Gefahr ist jedoch gering, da sein Aroma so widerlich ist, dass nur olfaktorisch extrem abgestumpfte Gemüter zubeißen würden. Nachdem wir weder den typischen, chemieartigen Geruch an den rohen Pilzen noch einen unangenehmen Geschmack (wir kosteten zu dritt winzige Stückchen der Pilze) haben feststellen können, werden die Champignons für verzehrbar erklärt. Aus der Küche wabern bereits erste köstliche Schwaden der Parasol-Pfanne herüber. Schnell auf den Herd mit unseren Schafchampignons. Anja und ich werfen uns vor der Pfanne noch einen kurzen Blick zu: “Sollen wir die Champignons zu aller Sicherheit doch extra braten?” “Ach was, wir haben die so beschnüffelt und beknabbert, die sind astrein.”

Also ab damit zu den Parasolen! Sofort färben sich die Champignons quietschgelb. “Moment! Ist das jetzt normal oder was…?” Ein stechender Geruch nach Chemiesaal breitet sich in der Küche aus. Ungläubig und entsetzt stehen wir vor unserer Pilzpfanne! Diese miesen Stücke von Karbolchampignons haben ihren typischen Geruch so lange versteckt, bis wir sie zu unseren köstlichen Parasolen in die heiße Pfanne gegeben haben. Nun zeigen sie ihre wahre, stinkende Natur. Aus und vorbei mit unserem ersehnten Pilzgericht!!
Anja knallt den Pfannenwender auf die Arbeitsplatte und muss erst mal kurz an die frische Luft! Ich kann zum Glück gleich wieder lachen. Lehrgeld muss jeder mal bezahlen! Meine liebe Mutter ruinierte vor Jahren ein Pilzessen durch die Zugabe eines bitteren Gallenröhrlings. Seit dieser traumatischen Erfahrung kostet sie jeden verdächtigen Pilz bevor sie ihn in die Pfanne gibt. Wir werden sicher nie wieder Champignons mit bestimmten Merkmalen zu anderen Pilzen in die Pfanne geben, sondern immer extra braten!
Auf den Schreck und Frust brauchen alle erstmal ein Glas Sekt! Zu essen gibt’s dann eben Pasta mit Pesto, schmeckt auch gut.
“Jaja, das Leben ist manchmal ein Karbolchampignon!” meint Anja weise.

Empfehlenswerte Fachlektüre:

“Der große BLV Pilzführer für unterwegs” von Ewald Gerhardt
broschiert, 718 Seiten mit über 1000 Farbfotografien
19,95 Euro
ISBN-10: 3835406442

Über stefanie

Geboren 1976 in Offenburg. Grundschulzeit und Gymnasialzeit in Offenburg. Nach dem Abitur ein Jahr Arbeit in einem Museum für experimentelle Archäologie. Studium der Ethnologie/Ur-und Frühgeschichte/Soziologie an LMU München, Fu/HU Berlin. Feldforschung im französischen Jura mit einem fahrenden Lebensmittelhändler. Abschluss des Studiums als Magistra artium. Während des Studiums Nebentätigkeit als Verkäuferin bei Manufactum Brot&Butter. Später Produktmanagerin für den Food-Bereich im gleichen Unternehmen. Seit 2007 freie Journalistin und Foodscout.
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