Wer is(s)t Knut?

Alle haben Bock auf Fleisch. Doch kaum jemand stellt sich der Realität hinter Schnitzel & Co. Ich habe einen Blick über den Tellerrand gewagt und eine Hausschlachtung miterlebt.

Dies ist die Geschichte eines Experiments. Sie beginnt im Juli vergangenen Jahres in Mecklenburg in der Pension zweier Freundinnen. Die beiden wohnen sehr ländlich und halten – wie auch ihr Nachbar Michael – Skudden, eine alte Schafrasse. Aus einem Impuls heraus kaufe ich Michael ein junges Böckchen ab. Ein frech blökendes, kleines, weiß-graues Lamm. Ich gebe ihm den Namen Knut. So weit, so gut. Wenn nicht das Ziel beim Kauf schon feststehen würde. Knut, so ist der Plan, wird mal ein Teil von mir. Denn eines nicht so fernen Tages werde ich ihn essen. Zumindest in der Theorie. Die Praxis sieht vorerst so aus: kaufen, heimfahren, das Tier gut aufgehoben wissen.

Bis zum Abend des 30. Novembers. Ich stehe vor einem Unterstand aus Holzbrettern und schaue auf meinen Knut, der sich an seine Artgenossen schmiegt.
Morgen ist es so weit. Zu meinem Advent gehört jedes Jahr ein Kalender und ich freue mich darauf, das erste Türchen zu öffnen. Dieses Jahr werde ich eine sehr viel größere Tür aufstoßen und über eine breite Schwelle treten. Mir geht es um die Konfrontation mit einer Thematik, die unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter verdrängt hat: Die Tatsache, dass für jedes Stück Fleisch, das wir zu uns nehmen, ein Tier sein Leben lässt.
Das Vergessen wird uns heute sehr leicht gemacht. Es beginnt mit hermetisch abgeriegelten Ställen, in denen Millionen von Tieren für uns unsichtbar ihr Dasein fristen. Zweite Station sind die großen Schlachthöfe. Das dortige Treiben bleibt dem Normalbürger vorenthalten. Keiner außer den Angestellten sieht die Tiere, die in ihren Tod gehen.
Wurst mit Bärchengesicht, Chickennuggets in Dinoform, quadratisch-praktische Hackfleischklötze und eingeschweißte Koteletts liegen in den Kühlregalen. Fast nichts lässt bei diesen Produkten noch auf ihre Herkunft schließen. Wir sollen und wollen nicht damit belastet werden, dass diese abstrakt geformten Proteinstücke vorher lebendige Tiere waren. Heute gilt es schon als wagemutig, ein ganzes Huhn zuzubereiten. Das Abwenden vom Unangenehmen, dem Vorgang des Tötens, des Schlachtens, führt zur Entfremdung vom Tier.
Immer wieder höre ich im Bekanntenkreis den Satz: „Wenn ich eine Schlachtung sehen müsste, dann könnte ich kein Fleisch mehr essen!“
Ist  die Verdrängung von Tod und Schlachtung ein Grund dafür, dass wir heute ohne nachzudenken Unmengen an Fleisch zu uns nehmen? Der Schluss liegt nahe.

Darum stelle ich mich mit Knut dieser Herausforderung. Und finde mich selbst dabei fast komisch. Ist nicht das Schlachten von Tieren das Normalste der Welt, wenn man Fleisch mag?
Bei jedem Fleischessen versuche ich mir bewusst zu machen, was dahinter steckt. Dennoch bleibt die Schlachtung unwirklich. Was wird das unmittelbare Erleben mit mir machen? Werde ich „danach“ noch Fleisch essen wollen?
Nun stehe ich vor Knut. An seinem letzten Lebenstag.
Absolut jeder hat mir in den vergangenen Wochen versichert, es sei ein kapitaler Fehler, einem Tier, das man schlachten (lassen) will, einen Namen zu geben. Dann könne man es nicht mehr essen! Aha.
Knut hat die vergangenen Monate fröhlich in der Herde meiner Freundinnen verbracht, vergnügte sich mit den weiblichen Schafen, hatte ein artgerechtes, wunderbares Dasein.
Bis heute. Er ahnt wohl noch nichts von seinem nahenden Lebensende. Ich hatte seit Mitte November Zeit, mich auf diesen Moment vorzubereiten. Da kam der Anruf: Ein Hausmetzger sei gefunden, der Schlachttermin vereinbart.
Seitdem begleiten mich die Zweifel. Ständig denke ich an das Tier, das ich töten und essen will.
Kann ich das wirklich tun? Soll ich Knut nicht einfach als „Patenschaf“ übernehmen und seine laufenden Kosten zahlen?
Es ist ein sonniger, ein friedlicher Abend. Während ich Knut so anschaue, denke ich noch: Was für ein hübsches Tier er ist. Werde ich es übers Herz bringen?
Ein paar Stunden zuvor haben wir die drei Böckchen in den Unterstand gesperrt, um ihnen am Morgen eine aufregende Einfangaktion zu ersparen. So können wir sie einfach greifen und zur Schlachtbank führen. Nun liegen die Kandidaten aneinandergekuschelt im Stroh und käuen wieder.
Die letzte Aufgabe des Tages ist das Einrichten des Schlachtraums im Holzschuppen. Die Schlachtbank – ein Biertisch – wird aufgestellt, Wannen, Eimer und Lampen vorbereitet.

Um sechs Uhr reißt mich der Wecker aus dem Schlaf. Langsam dämmert der Tag, die aufgehende Sonne taucht den Himmel in intensive Farben. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass Knut dieses prächtige Schauspiel zum letzen Mal sieht. Sofort ermahne ich mich, jetzt nicht pathetisch zu werden – welches Schaf betrachtet schon verzückt den Morgenhimmel?
Punkt acht Uhr rollt der Wagen des Hausmetzgers auf den Hof. Zwei wettergegerbte Männer steigen aus. Jetzt klopft mein Herz bis zum Hals, es wird ernst.
Hoffentlich erfüllt sich unser gemeinsamer Wunsch, dass sie gut mit den Tieren umgehen. Ich helfe dem Schicksal nach. Als ich Herrn Dreger und seinen Helfer begrüße, sage ich auch gleich, dass es meine erste Schlachtung sein wird, mir etwas an dem Tier liegt und sie bitte respektvoll mit ihm umgehen sollen. Zum Glück wird das nicht herablassend belächelt, nach dem Motto: Was weiß die schon und was will die hier eigentlich!
Der Schlachter lässt sich auch darauf ein, dass wir nicht alle Tiere nebeneinander stellen und sie im Beisein der anderen geschlachtet werden, sondern eines nach dem anderen geholt und keines die toten Artgenossen sehen wird. „Besser man geht davon aus, sie verstehen mehr, als wir ahnen!“, sage ich mir.
Die Männer begutachten den Schlachtraum und legen ihr Handwerkszeug bereit. Wir bringen heißes Wasser und Handtücher. Dann geht es los. Zweifel und Angst haben keinen Platz mehr, jetzt wird gearbeitet.

Knut ist das dritte Schaf, das geschlachtet wird: Entschlossen packe  ich ihn beim Gehörn, was er gar nicht lustig findet und sofort zu bocken anfängt. Ich bin so damit beschäftigt das Tier zu halten, dass ich in diesem Moment überhaupt nicht mehr zum Nachdenken komme. Unter Einsatz aller Kraft schleppe ich den Bock um die Hausecke zur Schlachtbank. Knut wird auf den Tisch gelegt, der Helfer hält ihn, ich kraule seinen Rücken. Herr Reger nimmt den Bolzenschussapparat und setzt ihn zwischen den Hörnern an. Ein lauter Knall, Knuts Kopf fällt schlaff herab – Betäubung gelungen! Nun durchtrennt der Schlachter die Halsschlagader und lässt das Tier ausbluten. Nach zwei, drei Minuten ist es vorbei. Aber jetzt, da ich selbst hinter meinem eigenen Lamm stehe, kommt mir das Ganze sehr lang vor. Ich schicke ein Stoßgebet los, hoffe, dass er wirklich bewusstlos ist und nicht merkt, was mit ihm geschieht.
Dann, endlich, ist Knut tot.
Den traditionellen Schnaps nach der Schlachtung haben die Männer ausgeschlagen. Aber einen heißen Kaffee können wir alle gut gebrauchen. Ich puste in meine Tasse und wundere mich darüber, wie vergleichsweise gelassen ich gerade meine erste Schlachtung hinter mich gebracht habe.

Nun zieht Herr Dreger Knut sorgfältig das Fell ab. Der „Schlachtkörper“ wird mit Haken an den Hinterbeinen aufgehängt und ausgenommen. Und dann hängt er da, der erstaunlich kleine Rest eines Tieres, das 30 Minuten zuvor noch gelebt und geatmet hat. Ein Tier, das ganz sicher nicht sterben wollte und lieber bei seiner Herde geblieben wäre. In der kalten Winterluft dampft der noch warme Körper, über allem liegt der Geruch von Schafwolle und Lammfleisch.

Erst später, in der Zurückgezogenheit und Ruhe meines eigenen Zimmers kommt das, was ich zuvor mit Verwunderung vermisst habe. In Gedanken wiederholt sich die Schlachtung, immer und immer wieder. Dann kommen Gefühle. Eine Mischung aus Wehmut und Erleichterung. Ich finde es traurig, dass der hübsche Knut gestorben ist. Und bin gleichzeitig froh, dass ich gewagt habe, dabei zu sein und es selbst zu erleben. Eine Schlachtung ist kein schönes Erlebnis, das weiß ich jetzt, aber mit dem richtigen Metzger ist sie durchaus erträglich.
Knut hatte das Glück, respektvoll behandelt zu werden und keinen langen Transport zu einem großen Schlachthof durchleiden zu müssen. Wir haben versucht, es ihm so leicht wie möglich zu machen. Das tröstet mich. Andererseits finde ich nun umso schlimmer, was unzähligen Schlachttieren zugemutet wird.

Drei Tage später trete ich mit dem Zug die Heimreise an. In meinem Trolley befinden sich, sicher verstaut in einer Kühltüte, etwa sieben Kilo Lammfleisch. Das packe ich zu Hause in meine Gefriertruhe.  Nach ein paar Wochen wage ich das erste Lammgericht: winterlicher Gemüseeintopf mit Knut – es schmeckt hervorragend!
Durch Knut hat sich tatsächlich etwas verändert. Ich bin keine Vegetarierin geworden, aber ich esse Fleisch noch bewusster als zuvor. Nichts mehr aus dem Supermarkt, nichts mehr nur aus Langeweile. Alles mit Herz und Hirn.

 

 

Über stefanie

Geboren 1976 in Offenburg. Grundschulzeit und Gymnasialzeit in Offenburg. Nach dem Abitur ein Jahr Arbeit in einem Museum für experimentelle Archäologie. Studium der Ethnologie/Ur-und Frühgeschichte/Soziologie an LMU München, Fu/HU Berlin. Feldforschung im französischen Jura mit einem fahrenden Lebensmittelhändler. Abschluss des Studiums als Magistra artium. Während des Studiums Nebentätigkeit als Verkäuferin bei Manufactum Brot&Butter. Später Produktmanagerin für den Food-Bereich im gleichen Unternehmen. Seit 2007 freie Journalistin und Foodscout.
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